Heft 14

Psychologische Didaktik und kultur-historische Theorie der Lerntätigkeit

Editorial

Die Beiträge in diesem Heft sind teilweise in einem anderen Zusammenhang publiziert worden. Dies geschah mit der Zielstellung, um auf die kultur‐historischen Didaktik aufmerksam zu machen und ihren möglichen Beitrag zur Lösung aktueller Problemstellungen im Zusammenhang mit schulischer Bildung und Erziehung zu kennzeichnen. Durch den Publikationsrahmen als auch durch Platzbeschränkungen müssen dabei einzelne besondere Gesichtspunkte und Aspekte stärker betont werden, wobei der Gesamtzusammenhang kultur‐historische Theorie und insbesondere Tätigkeitstheorie etwas in den Hintergrund geraten. Aus diesem Grund wurden die Beiträge gründlich überarbeitet, teilweise erweitert und in diesem Heft so zusammengestellt, dass dieser theoretische Zusammenhang sichtbar wird, so jedenfalls sind die Intentionen des Autors dieses Heftes.

Vor allem zwei aktuelle Problemlagen werden dabei in den Fokus genommen: die Kompetenzorientierung als Ausdruck der Bemühungen um effizienteres Lernen und Lehren in Schule und Unterricht sowie die Inklusion als gesellschaftliche Aufgabenstellung und hier vor allem inklusives Lernen und Lehren im Unterricht.

Die kultur‐historische bzw. tätigkeitstheoretische Didaktik bietet bei prinzipieller Beibehaltung der Orientierung auf die Lösung des gekennzeichneten Bildungsproblems u.E. eine gewisse Alternative zur Kompetenzorientierung, wie sie in der Literatur diskutiert wird (vgl. etwa Klieme 2009). Dies vor allem hinsichtlich der Kritik eines zu engen Verständnisses des Bildungsauftrages der Schule bzw. einer zu geringen Bedeutung des Bildungsbegriffes (vgl. Ditton 2007). Kompetenzen werden aus Bildungsstandards konkretisiert, welche sich an (vorgegebenen bzw. gesellschaftlichen Erwartungen folgenden) Bildungszielen orientieren. Sie sollen möglichst differenziert aufzeigen, welche Ziele Schüler erreichen sollen bzw. ob und in welchem Maße diese erreicht wurden. Schulisches Lernen soll dann vor allem den vorgegebenen Zielen folgen, wobei die Lernlogik bestenfalls im Nachhinein berücksichtigt werden kann. Aus diesem Grund hat man sich in den letzten Jahren besonders darum bemüht, nach „gute Aufgaben“ zu suchen und einer neuen „Aufgabenkultur“ zum Durchbruch zu verhelfen, welche die Lernenden in eine solche Aktivität versetzen soll, die genau die Entwicklung der angezielten, im Curriculum intendierten Kompetenzen anstößt. Dabei ist übersehen worden, was Bereiter/ Scardamalia (1989) bereits als Hauptproblem schulischen Unterrichts kritisierten: Lernen wird zur Schularbeit, d.h. darauf reduziert, Schulaufgaben zu lösen und nicht darauf orientiert, sich selbst zu verändern, sich Bildung anzueignen, um sich einerseits die Welt erschließen zu können und andererseits für die Welt erschlossen zu sein (KLAFKIs „Doppelte Erschließung“).

Die für die tätigkeitsorientierte Didaktik charakteristische Orientierung an der Lerntätigkeit berücksichtigt die Wechselwirkung der Komponenten Lernsubjekt (Bedürfnisse, Interessen, Vorkenntnisse…), Lerngegenstand, Lernmotiv und ‐ziel sowie Lernmittel (insbesondere Lernhandlung) und ist damit von vornherein auf die gesamte Persönlichkeit, nicht nur auf bestimmte Kompetenzen fokussiert (vgl. dazu Kompetenzbeschreibungen, die sich in der Regel auf zumeist domänenspezifische Inhalte und Methoden beziehen).

Andererseits stiftet der kultur‐historische Theorieansatz Orientierungen für inklusives Lernen, obwohl hierzu – mit Ausnahme der Behindertenpädagogik, z.B. Jantzen, Feuser) bislang wenig systematisch geforscht wurde. Durchgeführt wurden einzelne Untersuchungen zum kooperativen Lernen (vgl. für einen Überblick Lompscher 1989, 2007) sowie Versuche zum individualisierten Lernen (an denen der Autor als Lehrkraft selbst beteiligt war).

Obwohl es an der Oberfläche gesellschaftlichen Handelns so erscheint, ist die Problematik der Inklusion nicht durch die Tatsache entstanden, dass Politiker die UNBehindertenkonvention unterschrieben haben, sondern Inklusion ist eine nicht mehr zu leugnende gesellschaftliche Notwendigkeit (vgl. auch Hopf/ Kronauer 2016). Einerseits verändern sich Lebensbedingungen und die Lebenssituation in der modernen Gesellschaft überaus dynamisch, wovon auch kindliche Lebenswelten betroffen sind. Andererseits besteht die Gefahr, dass die durch die moderne Gesellschaft bedingte wachsende Heterogenität der Lebensbedingungen ohne politische Reaktion dazu führen würde, dass gesellschaftlich notwendige Strukturen, die sozialen Zusammenhalt gewährleisten, zerfallen. Dies gilt vor allem für den westlichen Kulturkreis. In diesem finden seine Bürger materielle und kulturelle Lebensbedingungen vor, die genau den Bedingungen der diese Gesellschaft prägenden Marktwirtschaft entsprechen und dieser dienlich sind. Das ist einerseits mit relativ großen Freiheiten in der Ausgestaltung ihres individuellen Lebens verbunden. Das Ausleben der möglichen Freiheit ist allerdings andererseits an Voraussetzungen gebunden, die nicht allen Mitgliedern der Gesellschaft gleichermaßen zugänglich sind. Ohne gesellschaftspolitische Reaktion würde sich die Gesellschaft auseinander leben und partialisieren: Schon jetzt ist ein Trend der Vertiefung der Unterschiede innerhalb der Gesellschaft zwischen Arm und Reich, zwischen an die Anforderungen Angepassten und Nicht‐Angepassten, Oben und Unten, Arbeitenden und Arbeitslosen nicht zu übersehen.

Inklusion ist also eine gesellschaftliche Notwendigkeit und eine Reaktion auf diese Situation. Für den Erziehungs‐ und Bildungsbereich bedeutet das, der wachsenden Heterogenität innerhalb der Heranwachsenden nicht durch eine äußerlich differenzierende Separierung von Bildungsangeboten zu begegnen, sondern im Gegenteil solche Inklusionsangebote zu unterbreiten, dass Gemeinsamkeit in der Unterschiedlichkeit und Heterogenität gelebt werden kann. Es geht dabei um nichts weniger als um die Sicherung des Grundkonsenses innerhalb der Zivilgesellschaft, die ohne einen solchen in Parallelgesellschaften zerfallen würde. Das aber bedeutet, dass die nun einmal existierende Heterogenität produktiv und fruchtbar gemacht werden muss, um den Wert der Unterschiedlichkeit in der Gemeinsamkeit erkennen und leben zu können. Dies kann dadurch erfolgen, dass das Prinzip der Arbeitsteilung, welches ja grundlegend für die menschliche gesellschaftliche Entwicklung ist, aufgegriffen und kultiviert wird. Gemeinsame Tätigkeit, arbeitsteilige, vielperspektivische Kooperation ist dem Wesen nach die gemeinsame Arbeit verschiedener Menschen an einem gemeinsamen Gegenstand, der in der Tätigkeit gestaltet und umso wertvoller für alle wird, je mehr unterschiedliche Seiten der Gestaltung individuell eingebracht und in ihm repräsentiert werden. Wenn sich alle im gemeinsamen Gegenstand vergegenständlichen können, wird dieser für alle auch subjektiv wertvoll und objektiv reich an Perspektiven und Facetten. Dies ist sehr verkürzt der Grundzugang der kulturhistorischen Theorie zum Problem der Inklusion.

Lerntätigkeit vollzieht sich (wegen ihres kultur‐historischen Wesens) wesentlich in der Kooperation und Kommunikation mit anderen Lernenden und Lehrenden, die im Rahmen des Unterrichts ein Gesamtsubjekt bilden. Dieses ist durch eine gemeinsame Schnittmenge an Bedürfnissen, Zielen, Gegenständen und Mitteln gekennzeichnet, an welche Kooperation gebunden ist. Das Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand, unter einer gemeinsamen Zielstellung, gestattet, Individuen mit unterschiedlichen Lern‐ und Handlungsvoraussetzungen zu integrieren, sodass durch arbeitsteiliges Vorgehen einerseits der Zusammenhalt, das Gemeinsame – inklusives Lernen – gewährleistet und zum anderen auch die individuellen Stärken der Lerner betont bzw. Schwächen kompensiert werden können (vgl. Feuser/ Berger 2002, Lütje‐Klose 2011, Giest 2008).

Alle Beiträge verbinden eine weitere gemeinsame Grundidee und eine Grundforderung nach der Wiederentdeckung und Kultivierung einer psychologischen Didaktik. Mit Blick auf den Bildungsbereich/ Didaktik lässt sich die kultur‐historische Theorie nämlich als dem Wesen nach psychologisch‐didaktisch kennzeichnen (Giest 2013, 2015, im Druck b und in diesem Heft). Dies ist bedeutungsvoll, da eine Brücke zwischen Bildung und Lernen (z.B. Bildungstheorie sensu Klafki vs. Lerntheorie sensu Aebli – vgl. Staub 2006, Giest im Druck a und in diesem Heft) geschlossen werden kann. Genau diese Brücke ist die Voraussetzung dafür, dass einerseits das Problem der Steigerung der Effizienz des Lernens und Lehrens, wohlgemerkt mit Blick auf die Persönlichkeitsentwicklung, die Aneignung von Bildung erhöht sowie der mit der Inklusion bzw. Heterogenitätsproblematik zusammenhängende Bildungsanspruch, der ja dann gleichermaßen für alle Mitglieder der Gesellschaft gilt, eingelöst werden kann, indem der Grundvorgang – nämlich das Lernen – dem pädagogischen Zugriff zugänglich wird.

Literatur

  • Bereiter, C.; Scardamalia, M. (1989): Intentional Learning as a Goal of Instruction. In: Resnick, L.B. (Ed.): Knowing, Learning and Instruction, pp 361‐392. Hillsdale, N.J.
  • Ditton, H. (2007): Erwartungen verdeutlichen und Ergebnisse sichern. Was wissen wir über Kompetenzorientierung? In: Pädagogik, 9, S. 40‐43.
  • Feuser, G.; Berger, E. (Hrsg.) (2002): Erkennen und Handeln. Momente einer kulturhistorischen (Behinderten‐) Pädagogik und Therapie. Berlin.
  • Giest, H. (2008): Lernprozesse im Sachunterricht für heterogene Lerngruppen. In: Kiper, H.; Miller, S.; Palentien, Ch.; Rohlfs, C. (Hrsg.): Lernarrangements für heterogene Gruppen, S. 168‐183. Bad Heilbrunn.
  • Giest, H. (2013):Tätigkeitstheoretische bzw. kulturhistorisch orientierte Didaktik. In: Jahrbuch für Allgemeine Didaktik, S. 32‐42. Baltmannsweiler.
  • Giest, H. (2015): Diagnostik und Inklusion im Sachunterricht. In: Schäfer, H.; Rittmeyer, Ch. (Hrsg.), Handbuch Inklusive Diagnostik, S. 214‐229. Weinheim Basel.
  • Giest, H. (im Druck a): Aufsteigen vom Abstrakten zum Konkreten – eine Herausforderung für die didaktische Theoriebildung. Erscheint in: Riegert, J.; Musenberg, O. (Hrsg.): Wozu Didaktik? Perspektiven von Theoriebildung und empirischer Forschung. Bad Heilbrunn.
  • Giest, H. (im Druck b): Kulturhistorische Didaktik – zwischen Bildungstheorie und Lernpsychologien? Erscheint in: Köker, A.; Störtländer, J.CH.: Zur Relevanz von Bildungstheorie und kritisch‐konstruktiver Didaktik für die Professionalität von LehrerInnen – Bilanz der Impulse des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki. Weinheim.
  • Hopf, W.; Kronauer, M. (2016): Welche Inklusion? In: Zeitschrift für Pädagogik, 62. Beiheft: Schulische Inklusion, S. 17‐26.
  • Klieme, E. (2009): Leitideen der Bildungsreform und der Bildungsforschung. In: Pädagogik, 5, S. 44‐47.
  • Lütje‐Klose, B. (2011): Müssen Lehrkräfte ihr didaktisches Handeln verändern? In: Lernende Schule, 55, S. 13‐15.
  • Lompscher, J. (Hrsg.) (1989): Psychologische Analysen der Lerntätigkeit. Berlin.
  • Lompscher, J. (2007): Tätigkeit – Lerntätigkeit – Lehrstrategie. Die Theorie der Lerntätigkeit und ihre empirische Erforschung. Berlin.
  • Staub, F.C. (2006): Allgemeine Didaktik und Lernpsychologie: Zur Dynamisierung eines schwierigen Verhältnisses. In: Baer, M. Fuchs, M.; Füglister, P.; Reusser, K.; Wyss, H. (Hrsg.): Didaktik auf psychologischer Grundlage, S. 169‐179. Bern.

Hartmut Giest

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Inhalt

 


 

  • Abstracts 10

  • Tätigkeitstheoretische bzw. kultur‐historisch orientierte Didaktik 13

  • Kulturhistorische Didaktik und Bildungstheorie 24

  • Zum Verhätnis von Konstruktivismus und Täigkeitsansatz in der Päagogik 49

  • Inklusion im Sachunterricht 80

  • Literaturverzeichnis 98

  • Personal‐ und Stichwortverzeichnis 109

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