Heft 15 |
14. Workshop „Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule“
Editorial
In der vorliegenden Ausgabe werden einige der Beiträge veröffentlicht, die im Rahmen des 14. Workshops „Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule“ in Frankfurt/M. als Referate vorgestellt wurden.
Im Zentrum der Workshops“ Tätigkeitstheorie und kulturhistorische Schule“ steht traditionell die Befragung und Weiterentwicklung historisch-materialistisch fundier- ter Ansätze in den Subjekt- und Sozialwissenschaften sowie die Erkundung ihrer Grenzen. Der 14. Workshop widmete sich schwerpunktmäßig dem Thema „Didaktik und Tätigkeitstheorie“ und griff damit einen pädagogischen Dauerbrenner auf. Gefragt wurde nach Beiträgen, die didaktische Prozesse aus der Sicht der Tätigkeitsthe- orie als komplexes, dialektisches Geschehen beschreiben und analysieren sowie nach solchen, die den Gebrauchswert tätigkeitstheoretischen Denkens für die Praxen des Lernens und Lehrens untersuchen. Damit knüpfte der Workshop u.a. an Heft 14 / 2016 der Zeitschrift „Tätigkeitstheorie. Journal für tätigkeitstheoretische Forschung in Deutschland“ an, in dem Arbeiten zum Thema „Psychologische Didaktik und kul- turhistorische Theorie der Lerntätigkeit“ vorgestellt wurden.
Die ersten drei Beiträge dieses Hefts setzen sich auf unterschiedliche Weise mit Ler- nen als Tätigkeit im Mathematikunterricht auseinander. Alle behandeln die Frage, wie Kinder und Jugendliche Vorstellungen von Zahlen bilden und wie sie im Prozess aktiver Aneignung didaktisch so unterstützt werden können, dass sie dabei Schritt für Schritt zu einem Verständnis für anderslautende, komplexere und abstraktere Aufgaben kommen.
Ausgangspunkt des Beitrags von Klaus Rödler ist die These, dass die Rechenprobleme von Grundschüler/innen häufig aus der Verwendung der Zahlwortreihe im Unterricht resultieren. Als Alternative schlägt er ein didaktisches Konzept „Rechnen-durch- Handeln“ vor, das Erkenntnisse aus der Kulturgeschichte der Zahl nutzt: Konkrete Zahlen werden analog abgebildet, z.B. durch Striche oder Körner. Dadurch werden Handlungen, also handelndes Ordnen oder Vergleichen, angeregt. Die Benennung der konkreten Gegenstände mit Zahlen ermöglicht im nächsten Schritt deren Ver- wendung für weitere Operationen, um den Preis der Vernichtung der Eigenschaften der Dinge. Im zweiten Teil der Arbeit setzt Rödler seinen Ansatz in Beziehung zu anderen didaktischen Modellen.
Marc Sauerwein lotet die Möglichkeiten systematischer Verwendung Figurierter Zahlen im Algebra-Unterricht in „Internationalen Vorbereitungsklassen“ aus. Diese Klassen werden von Kindern und Jugendlichen besucht, die aufgrund ihrer Herkunft sehr unterschiedliche persönliche und schulische Vorerfahrungen mitbringen, sowie Altersunterschiede von 8 und mehr Jahren aufweisen. Unter Bezug auf Leont’ev benennt der Autor Anforderungen, die bei der Auswahl von Anschauungsmaterialien im Mathematikunterricht zu berücksichtigen sind: Sie betreffen zunächst die Rolle, die das Material bei der Aneignung spielt, insbesondere jedoch sollen sich die inhaltlichen Gegenstände des Anschauungsmaterials durch die Tätigkeiten der Schüler/ innen mit jenem Gegenstand verbinden lassen, der verstanden und angeeignet werden soll, also mit der eigentlichen Rechenoperation.
Ysette Weiss kritisiert den forcierten Einsatz digitaler Geräte und Methoden im Mathematikunterricht als Teil einer von den Interessen der Wirtschaft gesteuerten Bildungspolitik. Sie beschreibt digital unterstütztes Rechnen-Lernen als kontraproduktiv und argumentiert, dass sich das Zahlenverständnis durch tätige Aneignung entwickelt und nicht durch Internalisierung einer visuell dargebotenen algebraischen Struktur. Die im Umgang mit elektronischen Geräten erworbene Kompetenz bezeichnet die Autorin als bloße „Bedienkompetenz“ und nicht, wie vielfach unterstellt, als Fähigkeit, mathematische Aufgabenstellungen in ihrer Struktur zu verstehen und mit dem Wissen autonom weiterzuarbeiten.
Der Beitrag von Denise Temme beleuchtet ein von dem mathematischen sehr ver- schiedenes Feld des Lehrens und Lernens: den Tanz, hier den Zeitgenössischen Tanz. Tanz wird als Tätigkeit verstanden, die sich beschreiben lässt als ein logisches Zugleich von körperlichen Bewegungsvollzügen und dem Sinn, den die Tanzende dem jeweiligen Bewegungsvollzug verleiht. Das Wie dieses Verhältnisses von Bewegung und Sinn wird als zentraler Anknüpfungspunkt für Reflexionsprozesse und wichtigste Beobachtungskategorie des künstlerischen Bildungsprozesses, damit als der Kern tätigkeitstheoretisch grundierter Tanzdidaktik, definiert.
Neben den Arbeiten mit direktem Bezug zum Schwerpunktthema „Didaktik und Tätigkeit(stheorie)“ wurden (im Call for Papers ausdrücklich erwünscht) im Workshop Beiträge mit einer weiter gefassten, anschlussfähigen Thematik präsentiert. Wir stellen in diesem Heft zwei von ihnen vor.
In ihrem Beitrag „Überlegungen zum Verhältnis von Didaktik und Lernpsychologie“ untersucht Margarete Liebrand, gestützt auf entsprechende Positionen von Vygotskij und Leont‘ev, die Beziehungen zwischen Lehren, Lernen und (kindlicher) Entwicklung. Mit Leont‘ev hält sie fest, dass Lernen ein selbst-tätiger Prozess ist, innerhalb dessen das Subjekt sich die Lerninhalte zu eigen macht, indem es ein eigenes Ver- hältnis zu ihnen aufbaut. D.h., gesellschaftliche Bedeutungen werden in persönlichen Sinn umgewandelt. Lernen wird so als Prozess der Selbst-Entwicklung des/der Lernenden verstanden, der zwar immer sozial vermittelt ist, zugleich aber nie etwas anderes als das Produkt der Tätigkeit des autonomen Individuums sein kann. Für das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden resultiert daraus eine Struktur der Einheit-im-Widerspruch. Lehr-Lern-Interaktionen werden beschrieben als unauflösliches Spannungsgefüge, die unter ungünstigen Bedingungen die Qualität von Dilem- mata annehmen können. Die Aufgabe der Didaktik sieht Margarete Liebrand darin, diese widersprüchliche Struktur ständig zu reflektieren.
Dorothee Roer und Renate Maurer-Hein thematisieren in ihrem Beitrag die Qualität der Beziehungen zwischen Professionellen und Nutzer/innen („Zielpersonen") in der Sozialen Arbeit, die sich ihrer Erfahrung nach nur allzu oft als Prozess des Lehrens und Belehrt-Werdens darstellt. Mithilfe des Menschenbildes Leont’evs untersuchen sie interpersonelle Aktivitäten als Prozesse, in denen die wechselseitigen Übergänge zwischen den Polen Subjekt-Objekt verwirklicht werden. Übertragen auf das Handeln zwischen den Protagonist/innen in der Sozialen Arbeit, wird ein fortschreitend dra- matisch werdendes Mit- und Gegeneinander (unterschiedlich positionierter tätiger Subjekte) sichtbar. Es sind die spezifischen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die diese Prozesse immer widersprüchlicher und intransparenter werden lassen. So werden intendierte Zielsetzungen notwendig obsolet. Abschließend untersuchen die Autorinnen, ob und unter welchen Voraussetzungen zumindest ansatzweise eine dialogisch-partizipatorische Gestaltung der Beziehung zwischen den Protago- nist/innen doch möglich wäre. Danken möchten wir abschließend Hartmut Giest, der durch seine geduldige Unter- stützung diese Veröffentlichung erst möglich gemacht hat.
Renate Maurer-Hein & Dorothee Roer
Inhalt
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Abstracts
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Klaus Rödler
Die Kulturgeschichte der Zahl als Impulsgeber für einen inklusiven Mathematikunterricht in der Grundschule
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Marc Sauerwein
Tätigkeitstheoretische Aspekte des Mathematikunterrichts in Internationalen Klassen am Beispiel von Figurierten Zahlen
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Ysette Weiss
Gedanken zur Digitalisierung des Mathematikunterrichts aus der Sicht des Werkzeugbegriffs
- Denise Temme
Stimmigkeit in Bewegung Vorüberlegungen zu einer tätigkeitstheoretischen Didaktik tanzkünstlerischer Praxis
- Margarete Liebrand
Überlegungen zum Verhältnis von Didaktik und Lernpsychologie
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Dorothee Roer und Renate Maurer-Hein
"Treffen zwei tätige Subjekte aufeinander – die tätigkeitstheoretische Sicht auf Interaktion in der Sozialen Arbeit"
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Autor/innen