Heft 6 |
Kinder sind verschieden
ADHS:
Störungen, Defizite oder Entwicklungsbesonderheiten?
Editorial
In der Auseinandersetzung mit der kontroversen Diskussion um ADS/ ADHS in Deutschland wird deutlich gemacht, dass es sowohl den medizinischen als auch den kulturtheoretischen Begründungen einer Ursachenklärung für dieses Syn-
drom an einer theoretischen und methodologischen Basis insbesondere für die Erfassung der Aufmerksamkeitsproblematik fehlt. Demgegenüber werden dem von Leont’ev entwickelten tätigkeitstheoretischen Konzept und der Entwick-
lungstheorie von Vygotskij entscheidende Hinweise für ein Verständnis von
10 Entwicklung und Entwicklungsbesonderheiten entnommen und auf den Gegen-
stand der Aufmerksamkeitsaneignung angewendet. Eine Entwicklungstheorie, die die Frage nach der Herausbildung des Psychi-
schen und psychischer Funktionen wie die der Aufmerksamkeit zu beantworten versucht, ohne einem Determinismus in der Klärung des Verhältnisses von Phy-
sischem und Psychischem zu verfallen, hat nach Auffassung beider Autoren nachzuweisen, dass die natürliche und die kulturelle Entwicklung nur als „eine Entwicklungslinie“ begreifbar sind und dass das Psychische mit der Betätigung der Erbmasse über die Aneignung des Kulturellen beginnt. Im Sinne dieser theo-
retischen Auffassung sind inadäquate Strukturen in der Ausbildung psychischer Fähigkeiten als ein Ergebnis der Betätigungsversuche des Kindes und damit als Formen der Selbstverwirklichung zu verstehen und nicht als Defizite. Entwick-
lungsbesonderheiten erklären sich aus der Entwicklung des Psychischen als ei-
nem Systemgeschehen, dem auszudifferenzierende Prozesse zugrunde liegen. Die diesem Systemgeschehen inhärente Entwicklungsdynamik erschließt sich unter Anwendung des von Vygotskij entwickelten Prinzips des Transfers vom In-
terpsychischen zum Intrapsychischen und der von Leont’ev entwickelten Kate-
gorien des Entwicklungswiderspruchs von Wollen und Handeln bzw. des Ent-
wicklungswiderspruchs von persönlichem Sinn und gesellschaftlicher Bedeu-
tung. Aufmerksamkeit ist ein vielfältig vermittelter Prozess. Die Entwicklung von Besonderheiten in der Ausbildung dieser psychischen Fähigkeit wird begreifbar aus dem Systemzusammenhang von widersprüchlichen Kontextbedingungen, der Qualität sozialer Beziehungen und der eigenen Sinnbildung eines Kindes. Entwicklungsbesonderheiten – so wenig entwicklungsfördernd sie auch sein mögen – sind persönliche Ausdrucksformen eines Kindes, die auch zum Aus-
druck bringen, dass Kinder sich selbst heilen können, wenn sie darin unterstützt werden, eine Hilfe von außen in eine für sie persönlich passende Hilfe umzu-
wandeln mit dem Ziel, anders als bisher zu handeln.
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Inhalt
- Abstract
- Vorbemerkung
- Analyse des Problems
- Theoretisch-methodologische Überlegungen
- ADHS – ein Entwicklungsproblem beim Aufbau von Selbststeuerungsprozessen
- ADHS zwischen Lernbesonderheiten und Selbstheilungskräften
- Re-Interpretation der ADHS-Forschung oder: ADHS – ein Entwicklungsproblem in der Aneignung psychischer Fähigkeiten
- Literatur
- Die Autorin
- Glossar